International Childhood Cancer Day 2023

Kampf gegen Kinderkrebs – und gegen die Bürokratie

Anlässlich des internationalen Kinderkrebstages am 15. Februar macht Kinderkrebs Schweiz auf ein oft verkanntes, dafür umso drängenderes Problem aufmerksam. Obwohl es den Ärzten heutzutage gelingt, mehr als 80 % der krebskranken Kinder zu heilen, lehnen Schweizer Versicherer immer noch allzu häufig die Kostenübernahme von lebensrettenden Therapien ab. Vor allem dann, wenn ein Kind nicht auf die Standardtherapie anspricht oder der Krebs zurückkommt. Viele Familien beklagen deshalb die Allmacht der Versicherer und ihrer Vertrauensärzte. Diese verfügen zumeist nicht über das notwendige Fachwissen, um die therapeutische Wirksamkeit einer Behandlung bei einer so seltenen Krankheit beurteilen zu können. Dennoch sind sie es, die im Alleingang über eine Kostenübernahme oder -ablehnung entscheiden können. Um diesem Missstand entgegenzuwirken, müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen dringend angepasst werden. Der Bundesrat wurde kürzlich von den zuständigen Kommissionen des National- und des Ständerats aufgefordert, mit den betroffenen Akteuren rasch eine Lösung zu finden.

Bessere Heilungschancen dank multidisziplinärer Expertise

In der Schweiz erhalten jedes Jahr rund 350 Kinder und Jugendliche die Diagnose Krebs. Die lebensbedrohliche Krankheit umfasst über 60 verschiedenen Tumorarten, die sich stark von denjenigen bei Erwachsenen unterscheiden. Aufgrund der geringen Fallzahlen konzentriert sich die Behandlung junger Krebspatienten hierzulande auf neun hochspezialisierte Abteilungen für pädiatrische Onkologie. Um sicherzustellen, dass jedes Kind die bestmöglichen Heilungschancen erhält, setzen Kinderonkologen seit langem auf internationale Behandlungsprotokolle, an denen die Schweiz teilnimmt und bei komplexen Fällen auf die Expertise der besten Spezialisten aus den jeweiligen Fachbereichen. In multidisziplinären Teams (Tumorboards) wird die klinische Situation jedes Kindes gemeinsam untersucht und die beste Behandlungsoption vorgeschlagen. Bei einem Rückfall wird somit für jeden Patienten eine personalisierte Behandlungsstrategie entwickelt. Die nationale und internationale Vernetzung ermöglicht es, die neusten medizinischen Erkenntnisse aus den verschiedenen Disziplinen in die Behandlung einfliessen zu lassen und dadurch den Zugang zu bestmöglicher Therapie sicherzustellen. «Die Heilungschancen krebskranker Kinder sind seit den 1960er Jahren um das Vierfache gestiegen. Wir Kinderonkologen haben längst erkannt, dass bei einer seltenen Krankheit der Schlüssel zum Erfolg in der engen nationalen und internationalen Zusammenarbeit und dem Zusammenschluss der besten Experten liegt, um das Leben eines Kindes zu retten», betont Nicolas von der Weid, Abteilungsleiter Hämatologie-Onkologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel und Präsident von Kinderkrebs Schweiz.

Bei Rückfällen wird die Kostenübernahme häufig abgelehnt 

Trotz all dieses hochspezialisierten Fachwissens lehnen die Versicherer bei komplexen Fällen im Schnitt 50 % der Gesuche auf Kostengutsprache erstmalig ab. Und auch bei Standardtherapien, die sich auf internationale Protokolle, an denen die Schweiz teilnimmt, abstützen und die von Swissmedic zugelassen sind, liegt die Ablehnungsquote bei durchschnittlich 10 %. Der Grund für diesen Missstand ist ein systemisches Problem, das von Kinderkrebs Schweiz und anderen Patientenorganisationen immer wieder angeprangert wird. Die aktuelle Gesetzeslage überlässt dem Vertrauensarzt die schwierige Aufgabe, die Wirksamkeit einer Behandlung zu bestätigen und grünes Licht für die Kostenerstattung zu geben – oder eben nicht. In der Öffentlichkeit kaum bekannt ist allerdings, dass die meisten dieser Vertrauensärzte, über keinerlei Fachwissen auf dem Gebiet der pädiatrischen Onkologie verfügen. «Einige Kindertumore sind sehr selten und die Krankenkassen derart zahlreich, dass ein Vertrauensarzt nur einmal in seinem Leben mit ein und demselben Fall konfrontiert wird», so Valérie Braidi-Ketter, CEO von Kinderkrebs Schweiz. Um den therapeutischen Nutzen einer Behandlung stärker zu systematisieren, möchte das BAG deshalb in Zukunft vermehrt auf ein standardisiertes Beurteilungsraster setzen. Bei einer seltenen Krankheit wie Kinderkrebs mit über sechzig verschiedenen Tumorformen sind jedoch viele komplexe Fälle einzigartig. Somit gerät eine Standardisierung bei Rückfällen oder therapieresistenten Erkrankungen zu einem schwierigen Unterfangen.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Wenn die Kosten für eine Behandlung vom Versicherer abgelehnt wurden, beginnt für die behandelnden Kinderonkologen oft ein Wettlauf gegen die Zeit. Sie müssen andere Möglichkeiten finden, die lebensrettenden Therapien für ihre kleinen Patienten zu finanzieren. Denn Krebs bei Kindern ist besonders aggressiv, demensprechend schnell muss gehandelt werden. «Die mühsame Suche nach alternativen Lösungen und die zahlreichen Rekurse, die wir gegen ablehnende Entscheide der Versicherer einlegen müssen, dürfen nicht weiter auf Kosten unserer Patienten gehen», betont Pierluigi Brazzola, Kinderonkologe und stellvertretender Leiter der Kinderabteilung in Lugano. Trotz aller Bemühungen und oft stundenlanger harter Arbeit wird die Kostenübernahme für die Behandlung bei komplexen Fällen in 20 %, bei Standardtherapien in 10 % der Fälle endgültig verweigert. Dann bleibt den Eltern nur noch übrig, auf eine Stiftung zu hoffen, die sie unterstützen möchte, oder die Therapie ihres Kindes selbst zu finanzieren, wenn sie es sich denn leisten können.

Die Politik ist aufgefordert, rasch Lösungen zu finden  

Trotz dieser offensichtlichen Probleme hielt der Bundesrat noch am 7. September 2022 fest, es bestehe bei Vergütung von Arzneimitteln für krebskranke Kinder kein Handlungsbedarf. Anderer Meinung waren die zuständigen Parlamentskommissionen. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats empfiehlt, so rasch wie möglich Verbesserungen an der Einzelfallvergütung anzubringen und dabei die Möglichkeit zu prüfen, ein Expertengremium einzusetzen. Die entsprechende Kommission des Ständerats schliesst sich dem an und fordert den Bundesrat auf, mit den betroffenen Akteuren an runden Tischen einen Konsens zu erarbeiten. Um in Zukunft willkürliche Ablehnungen der Kostenübernahme zu vermeiden und die Heilungschancen krebskranker Kinder weiter zu erhöhen, fordert Kinderkrebs Schweiz eine Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Ziel dabei ist, die Kostenübernahme von Standardbehandlungen zu automatisieren und bei komplexen Fällen ein Expertengremium aus dem Bereich der pädiatrischen Onkologie in die Entscheidungsfindung bindend miteinzubeziehen. Nur so kann sichergestellt werden, dass wirklich jedes krebskranke Kind in der Schweiz einen gleichberechtigten Zugang zur bestmöglichen Behandlung erhält.